Besuch der Zeitzeugin Irene Seiwert

(Ein Bericht von Anny Papaphilippu)

„Die Ehrfurcht gegenüber der Vergangenheit und die Verantwortung gegenüber der Zukunft geben für´s Leben die richtige Haltung.“ (Dietrich Bonhoeffer)

Besuch der Zeitzeugin Irene Seiwert (95) an der Heinrich – Böll – Gesamtschule

Eine geräumige Wohnung im Kölner Agnesviertel, fast unmittelbar neben der Agneskirche. Mir fallen sofort die vielen Pflanzen auf; Pflanzen, unzählige Zeitungen, Bücher und Papiere, ein ganzer Schreibtisch biegt sich unter dieser Last an Ordnern, Heftern, losen Zetteln.

„Ich habe noch so vieles aufzuschreiben, zu archivieren, muss noch jede Menge Briefe versenden-und ja, ich arbeite gerade ja auch noch an meinem neuen Buch und mehreren Artikeln zu Köln und seiner Geschichte!“ Dynamisch, vielbeschäftigt, umtriebig – so wirkt die Frau, die mich mit diesen Worten empfängt. Es ist Irene Seiwert. Sie ist 95 Jahre alt.

Damit ist Irene eine der immer seltener werdenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die in sich einen kostbaren Schatz tragen: er heißt Erinnerung. Die lebendige Erinnerung an vergangene Zeiten, über die kaum noch jemand authentisch – weil aus eigener Erfahrung – berichten kann. Diesen Erinnerungsschatz möchte Irene teilen: „Als letzte von Vieren bin ich übrig geblieben, vielleicht, weil ich noch ein wenig erzählen muss, ein wenig aufklären und sensibilisieren, zumindest Impulse zum Nachdenken geben. Es würde mich glücklich machen, wenn ich jungen Leuten ein weniges mitgeben kann.“

Und so besucht uns Irene am 19.November 2021 im Rahmen unseres Anti-Rassismus-Tages an der Heinrich – Böll – Gesamtschule, um vor einer großen Anzahl an Schülerinnen und Schülern zu sprechen: über ihre Kindheit in Prüm in der Eifel und die ersten Anzeichen des aufkeimenden Nationalsozialismus, dem sich ihre resolute Mutter so tapfer widersetzte, dass die Familie Seiwert nach Köln fliehen musste. Irene berichtet von ihrer Schulzeit an der Kölner Ursulinenschule, der zunehmenden Machtergreifung durch die Nationalsozialisten und dem Kriegsbeginn.

Gebannt, konzentriert und auch ergriffen folgen unsere Schülerinnen und Schüler Irene in ihre Erinnerungen, begleiten sie in die beklemmende Enge des Luftschutzkellers, in dem sie mit ihrer Familie unzählige Nächte in Angst vor den Bombenangriffen verbracht hat, folgen ihr an den Deutzer Bahnhof, wo Irene schmerzvollen Abschied von den Eltern nimmt, um gemäß der Kinderlandverschickung in den Ort Bansin auf Usedom zu reisen, und kommen mit ihr später in das vom Krieg zerstörte Köln zurück, erleben ihre harten Entbehrungen an Nahrung, an Sicherheit, und nicht selten an Hoffnung im Geiste mit– und begleiteen die Zeitzeugin zurück ins Hier und Jetzt.

Über zwei  Stunden des Erzählens und damit des Sich-Erinnerns, die die Schülerinnen und Schüler der Sek II miterleben. Stunden, in denen sie erfahren, wie ein Kriegsschicksal aussah, was es bedeutete, in quälender Ungewissheit zu leben, weil man um die beiden älteren Brüder an der Front bangte und auch die ältere, in Erfurt arbeitende Schwester schon seit Monaten nicht mehr gesehen hatte. Nicht zu wissen, ob man, aus der Schule kommend, noch ein Zuhause werde vorfinden können, weil dieses in der Zwischenzeit vielleicht zerbombt worden sein könnte, und keinerlei Planungssicherheit in Bezug auf Zukunft zu besitzen – dies alles schildert Irene anrührend und ehrlich.

Und doch hinterlässt ihr Bericht nicht nur eine Vorstellung von der Brutalität des Krieges, der im  Fall der Familie Seiwert von vier Kindern nur sie als das jüngste verschont hat – im Gegenteil:uns wird klar, dass es die Geschichte einer beherzten, resoluten Frau ist, die unter schwersten Bedingungen nie den Mut und den Glauben an sich selbst, nie die Hoffnung und das Vertrauen in das Leben und die Menschen verloren hat.

In Zeiten von Verschwörungstheorien, medial verbreiteten fake  news und der allgegenwärtigen Dunkelheit der Corona Pandemie hat Irene Seiwert unseren Schülerinnen und  Schülern einen authentischen Einblick in ihr bewegtes Leben gewährt und damit nachhaltig und eindringlich für Werte wie Kritikfähigkeit, Mündigkeit und Autonomie sensibilisiert.

Vor allem aber hat sie unsere Schülerinnen und Schüler menschlich erreicht, ihr Wissen über die Vergangenheit erweitert und damit ihr Bewusstsein für die Gegenwart geschärft.

Und dafür danken wir ihr.