Ein Bericht von Anny Papaphilippu
Im Sinne Heinrich Bölls eine wert – und gehaltvolle, lebendige und sensibilisierende Erinnerungskultur an unserer Schule zu etablieren, bereits vorhandene Angebote wachzuhalten, auszubauen und zu komplettieren – das ist nach wie vor unser Ziel, denn: manches lässt sich eben nicht erdenken, sondern nur real in menschlicher Begegnung erleben und erspüren.
So sind wir froh und dankbar mit Frau Irene Seiwert (96) mittlerweile regelmäßig eine der wenigen noch lebenden Zeitzeuginnen zu Gast haben zu dürfen, die den Schülerinnen und Schülern jedes Mal eine eindringliche und bewegende Begegnung mit der Vergangenheit ermöglicht, um deren Bewusstsein für die Gegenwart zu schärfen sowie für die Ereignisse zu Zeiten des Nationalsozialismus bzw. für eine Jugend in Kriegszeiten zu sensibilisieren – seit dem 24. Februar 2022 ein Thema von akut umso bedrückenderer Aktualität.
Zeitzeuginnen und Zeitzeugen – sie werden immer seltener und werden irgendwann einmal leider gar nicht mehr vorhanden sein. Umso wichtiger ist es, den Schatz der Erinnerungen, den diese Menschen in sich tragen, künftig für die nachfolgenden Generationen – und vor allem für Heranwachsende – zu bewahren.
Dies ist auch das Ziel von ZWEITZEUGEN e.V. aus Essen, einem Verein, den wir bereits im Dezember letzten Jahres zu Gast haben durften, und der sich auf wunderbare Weise dem Vermächtnis der noch lebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen widmet, indem er ihre Biographien jungen Menschen so erzählt und nahebringt, dass diese selbst – als sog. Zweitzeuginnen und Zweitzeugen – deren bewegende Geschichten weitererzählen können und auf diese Weise genau die Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schlagen, die es braucht, um die kostbaren Lebensgeschichten derer, die die Zeit des Nationalsozialismus mit – und überlebt haben, nicht verloren gehen zu lassen.
Denn noch immer gilt Adornos Postulat, dass die „Forderung, dass Auschwitz kein zweites Mal sei (…) die allererste an Erziehung“ sein müsse.
Und hier möchten auch wir unseren kleinen Beitrag leisten – wider das Vergessen, für Sensibilisierung, ethische Verantwortung und Mitmenschlichkeit.
Und so begleiten am 12.6.23 29 interessierte Schülerinnen und Schüler der Stufe EF sowie des HBG Studiert Projekts im Rahmen eines von ZWEITZEUGEN e.V. geleiteten Workshops die 1938 in Vilnius (Litauen) geborene Tamar Dreifuss (85) auf ihre Reise zurück in die Vergangenheit…
Zunächst noch im explizit jüdisch geprägten Vilnius ein geruhsames Leben führend, musste Tamars Familie 1940 aufgrund des Einmarsches der sowjetischen Armee zur Verteidigung Litauens nach Ponar umsiedeln; ihr Haus wurde als Soldatenquartier benötigt.
Auch in Ponar war ein noch recht „sicheres“ Leben möglich, was sich allerdings 1941 durch den Einmarsch der Wehrmacht änderte; die in Ponar durchgeführten Massenerschießungen von Juden sind bekannt. Die Lage der kleinen Familie ( Vater Jascha, Mutter Jetta und die damals dreijährige Tamar) gestaltete sich zusehends bedrohlicher, so dass Tamars Mutter ihre Tochter schließlich zu einer christlich orientierten Tante gab. Von diesem Moment an wurde aus Tamar „Theresa“ – und auch die Eltern änderten ihre Namen, um ihre jüdische Identität zu verbergen und zu schützen.
Nach eineinhalb Jahren bei ihrer Tante wurde „Theresas“ wahre Identität entdeckt -Tamar/Theresa kehrte zu ihren Eltern zurück, die mittlerweile im Ghetto in Vilnius lebten und dort unter massivem Elend und Hunger litten.
Als Tamar viereinhalb Jahre alt war, wurde ihr Vater Jascha nach Estland deportiert, auch sie und ihre Mutter sollten ihm folgen. Für Tamars Mutter stand fest, dass sie sich nicht widerstandslos in ein Konzentrationslager würde bringen lassen. Sie ahnte, dass die Aussage der Nazis, man brächte sie zum Arbeiten fort, eine Lüge war, da vor allem Frauen, Kinder, alte und kranke Menschen fortgebracht werden sollten. Zwei Fluchtversuche während der Deportation misslangen; Tamars Mutter wurde ausgepeitscht und schwer misshandelt – doch nicht gebrochen.
Nach langer Fahrt unter unmenschlichen Bedingungen kamen Tamar und ihre Mutter im Durchgangslager Tauroggen an.
Sie sollten sich zunächst waschen und umkleiden – und hier unternahm Jetta den dritten -den gewagtesten – Fluchtversuch: sie entfernte die Judensterne von ihrer und Tamars Kleidung, richtete sich und ihre Tochter bestmöglich her, nahm sie an die Hand und wagte das Unmögliche.
Zu einem Zeitpunkt, als die meisten Wachleute gerade Pause machten, schritt Jetta mit ihrer Tochter selbstbewusst aus der Baracke, ging quer durch das Lager, durchquerte das Haupttor und verließ den Ort, der ohne ihre Beherztheit und ihren Mut sicherlich die letzte Station vor der endgültigen Deportation in ein KZ gewesen wäre.
Die Geschichte erscheint unglaublich- sie ist aber wahr und dokumentiert eine durch Willensstärke, Resilienz, Tapferkeit sowie innere Zuversicht aus eigener Kraft und durch unfassbares Glück erreichte Rettung.
Auf Tamar sollte ein bewegtes Leben warten – in Israel, Bayern und Köln. Und die Liebesbeziehung zu ihrem Mann Harry, die 66 Jahre – bis zu dessen tragischem Tod durch eine Corona – Infektion im Jahre 2020 – währte.
Und heute? – Heute lebt die ehemalige Pädagogin Tamar (wieder) in Köln und besucht -noch immer pädagogisch tätig – Grundschülerinnen und Grundschüler sowie generell Schulen und erzählt dort ihre einzigartige Geschichte, denn: „Kinder lieben Märchen, weil diese oft ein happy end haben. Und auch meine Geschichte hat ein happy end, „ wie die Zeitzeugin selbst sagt.
All diese, menschlich anrührenden, dramatischen und nicht zuletzt bestürzenden Eindrücke eines bewegten Lebens bleiben – auch und vor allem, als die Schülerinnen und Schüler später Briefe an Tamar verfassen und niederschreiben, was ihre Geschichte für sie ganz persönlich bedeutet:
Aufklärung, Sensibilisierung, Schock, Erkenntnis, Verstehen, auch Entsetzen, ebenso das Empfinden von Empathie – und vielleicht auch von der eigenen ethischen Verantwortung, als Multiplikator/in im Kleinen seinen Beitrag zu einer Erinnerungskultur zu leisten und wider das Vergessen zu wirken.
Die Briefe der Schülerinnen und Schüler werden die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bzw. deren Angehörige erreichen, zugestellt durch Zweitzeugen e.V., der Reisen um die ganze Welt unternimmt, um denen, an deren Erinnerungen wir teilhaben durften, unsere Gedanken und unseren Dank zu übermitteln.
Und hier schließt sich der Kreis: die wertvolle Erfahrung, die Tamar Dreifuss uns durch ihre Geschichte geschenkt hat, kehrt in Gestalt der Briefe unserer Schülerinnen und Schüler zu ihr zurück – jeder Brief aus SchülerInnenhand zugleich auch ein kleiner Mosaikstein des Gesamtbildes einer wahrhaftigen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Und eine kleine – aber keinesfalls unbedeutende – Geste wider das Vergessen.
SchülerInnenstimmen:
„Es war sehr bewegend und interessant, eine Geschichte zu hören, die nicht mit Tod endet, sondern ein gutes Ende hat. Das hatte ich so nicht erwartet.“
„ Ich hätte niemals gedacht, dass es möglich wäre, so aus einem Lager zu entkommen. Ich empfinde tiefen Respekt für den Mut und den starken Willen der Mutter von Tamar, die alles getan hat, um ihre Tochter zu retten. Ich bin sehr berührt von diesem Schicksal.“
„Ich bin dankbar dafür, diese Geschichte gehört zu haben; sie macht viel Mut und zeigt, dass manchmal das Unmögliche möglich ist.“
„Ich hätte eine solche Geschichte nicht erwartet; ich kannte schon viele Fakten über die NS-Zeit aus dem Unterricht; ich weiß auch, was Zeitzeugen sind. Meist werden sehr schlimme Erfahrungen und Erlebnisse berichtet. Natürlich hat auch diese Zeitzeugin Schreckliches erlebt, aber dass sich ihr Leben so positiv gewendet hat, hat mich berührt. Danke für diese Geschichte.“
Wir freuen uns, dass die Pädagogikfachschaft der Heinrich -Böll – Gesamtschule aktuell eine feste – i.e. offiziell vertraglich verbriefte – Kooperation mit ZWEITZEUGEN e.V. zu schließen im Begriff ist, welche wir langfristig zu einer festen und kontinuierlichen Zusammenarbeit – auch mit weiteren Fachschaften – auszubauen planen.
Wir danken der Referentin von ZWEITZEUGEN e.V., Frau Romina Leiding, für eine erneut sehr gehaltvolle und bewegende Veranstaltung und sprechen ihr unseren tief empfundenen Respekt für die großartige Arbeit aus.
Wir danken zudem herzlich der Rheinenergie – Stiftung für die andauernde Teilfinanzierung und dieses Mal sogar komplette Finanzierung des Workshops von ZWEITZEUGEN e.V.!
Ebenso danken wir erneut dem Förderverein der HBG – ihr habt uns wieder etwas ganz Tolles ermöglicht!