Erinnerungskultur an der Heinrich-Böll-Gesamtschule in Köln-Chorweiler
Ein Bericht von Anny Papaphilippu
„Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, dass man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug.“[1]
So lautet Theodor W. Adornos oft zitierter, (hoffentlich) noch öfter reflektierter Satz. Doch wie sieht es mit der Umsetzung dieses Postulats nach einem aktiven Engagement für ein gesellschaftliches Klima aus, in dem für alle Menschen Frieden und Toleranz nicht verhandelbar sind, sondern den verbindlichen Referenzrahmen darstellen?
In diesen Tagen scheint es, dass Adornos Vermächtnis nicht laut genug wiederholt werden müsste. Von seiner Aktualität eingebüßt hat es jedenfalls nichts, ganz im Gegenteil!
Erziehung könne der Schlüssel sein, wenn es darum gehe, eine Wiederholung des „Ungeheuerlichen“, das im Nationalsozialismus geschah und für das der Begriff „Auschwitz“ symbolisch steht, zu verhindern. „(…) durch Erziehung und Aufklärung“ lasse sich „ein Weniges unternehmen“[2].
Erziehung findet jeden Tag an Schulen statt — auch bei uns an der Heinrich-Böll-Gesamtschule.
Adornos Postulat umzusetzen, ist daher Teil unserer Arbeit an der HBG, jeden Tag auf´s Neue. In diesem Sinne sind uns Aufklärung über die Zeit des Nationalsozialismus und Sensibilisierung für die Verantwortung jedes einzelnen Menschen für Frieden und demokratische Grundwerte sehr wichtig. Das ist Teil unserer täglichen Arbeit — auch und vor allem in Chorweiler, einem bunten Stadtteil, in dem zahlreiche Nationen neben-und miteinander leben.
Doch wie soll man Kinder und Jugendliche befähigen, nachhaltig aus der Vergangenheit zu lernen und dadurch wach und sensibel für gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen zu werden? Wie soll man sie zu kritischen und reflektierten Menschen erziehen, die mündig und selbstbestimmt agieren und sich für Mitmenschlichkeit und Menschenwürde einsetzen?
Zeitzeugenbesuche: ein (noch) gangbarer Weg
Ein Weg ist sicherlich eine authentische Begegnung mit der Vergangenheit, mit jemandem, der dieser „live“ ein Gesicht und eine Stimme gibt — mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die aufklären und wachrütteln und deren Lebensgeschichten lebendige und unmittelbare Zeugnisse sind: Für existenzielle Werte — Kritikfähigkeit, Mündigkeit und Individualität.
Und so habe wir mit Tamar Dreifuss am 17.11.23 eine Zeitzeugin zu Gast, die uns eine besonders eindringliche und bewegende Geschichte erzählt: Die Geschichte einer wunderbaren Rettung aus dem Durchgangslager Tauroggen, zugleich die Geschichte ihrer Mutter Jetta, die eher ihr Leben riskieren wollte, als mit ihrer Tochter Tamar in ein Konzentrationslager deportiert zu werden.[3]
1937 in Vilnius geboren, brach der Nationalsozialismus schon in früher Kindheit in Tamars Leben ein. Zunächst vor den Nazis unter falscher Identität und getrennt von den Eltern bei einer Tante versteckt, erlebte Tamar eineinhalb Jahre der scheinbaren Sicherheit, bis sie entdeckt wurde und zu ihren Eltern zurückkehrte. Mit diesen erlebte sie die Schrecken des Ghettos, erlebte den Abtransport des Vaters, die Deportation durch Litauen in Richtung Tauroggen und mehrere gescheiterte Fluchtversuche der unsagbar mutigen Mutter. Erlebnisse, die sie in dem Kinderbuch „Die wundersame Rettung der kleinen Tamar 1944“[4] zusammengefasst hat. Erlebnisse, die tief erschüttern, anrühren und deutlich machen, dass es Sinn ergibt, nie aufzugeben und den Glauben an das Gute nicht zu verlieren. Denn Tamars Geschichte ist auch die Geschichte von unvorhergesehenem Glück.
Im Lager Tauroggen angekommen, fasste Tamars Mutter einen Plan: Als sie sich duschen und anziehen sollten, wählte sie für Tamar und sich die beste Kleidung aus, die sie im Koffer noch hatte mitnehmen können, zog sich selbst ein Kostüm an und schritt entschlossen aus der Baracke in Richtung Eingangstor. Sie setze alles auf eine Karte und hoffte, nicht als Jüdin erkannt, vielmehr ggf. für eine deutsche Kommandeursfrau gehalten zu werden
Das Unglaubliche glückte: Mutter und Kind entkamen dem Durchgangslager in die Freiheit. Mut und Entschlossenheit hatten gesiegt.
Tamar selbst engagiert sich nach einem ereignisreichen und erfüllten Leben in Israel und Deutschland nunmehr seit über 20 Jahren für Frieden und besucht Kinder und Jugendliche regelmäßig an Schulen[5].
„Meine Geschichte allein ist wie ein Tropfen auf den heißen Stein — aber viele Tropfen bringen den Stein zum Schmelzen. Und die Tropfen, das seid Ihr.“ So ihre abschließenden Worte und ihr Auftrag an die künftigen Generationen, ihre Geschichte weiterzuerzählen.
Kooperation mit ZWEITZEUGEN e.V.: ein langfristiger Weg
Diese und weitere Geschichten von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen weiterzuerzählen — das ist auch erklärtes Ziel des Vereins ZWEITZEUGEN e.V. aus Essen.
ZWEITZEUGEN e.V., mit dem wir nun als offizielle ZWEITZEUGEN-Kooperationsschule verbrieft zusammenarbeiten, führt an Schulen Workshops durch, im Zuge derer Heranwachsende dazu befähigt werden, die Biografien von Holocaust –Überlebenden, wie Erna de Vries, Tamar Dreifuss, Eva Weyl u.a., als Multiplikatoren weiterzuerzählen, um so eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft herzustellen und sich wider das Vergessen einzusetzen, denn es naht die Zeit, in der Besuche lebender Zeitzeuginnen und Zeitzeugen leider nicht mehr möglich sein werden.
Zudem verfassen die Schülerinnen und Schüler in den Workshops Briefe an die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die der weltweit vernetzte Verein diesen auch persönlich zustellt — sei es in Deutschland, den Niederlanden, Israel oder Amerika— woraus die z.T. sehr alten Menschen viel Kraft schöpfen.
Mit der Vertragsunterzeichnung werden wir nun mindestens drei Mal pro Jahr Workshops an der HBG stattfinden lassen können — eine nachhaltige und wichtige Ergänzung zu unserer Ausrichtung als Schule ohne Rassismus.
Wir danken in diesem Kontext überaus herzlich dem Förderverein der HBG, der diese Kooperation, zunächst für die Dauer von drei Jahren, finanziert und auch sonst maßgebliche Unterstützung bei allen Veranstaltungen zur Erinnerungskultur geleistet hat und leistet. Dies bedeutet uns und den Schülerinnen und Schülern sehr, sehr viel.
Und Adorno?
Er fordert neben der Anbahnung der Fähigkeit zu kritischer Selbstreflexion vor allem auch die Fähigkeit zu Empathie als Gegenpol zum im NS kanonischen Ideal der Härte und Kälte.
Weiter sagt er: „Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.“[6]— alles Charakteristika eines Individuums, das manipulative Tendenzen als solche erkennt, in Frage stellt und Widerstand leistet.
Wir hoffen, dass wir durch die Kombination von Zeitzeugenbesuchen und die Ausbildung der Heranwachsenden zu Zweitzeuginnen und Zweitzeugen hier unseren (Erziehungs) Beitrag leisten können — vielleicht ein Tropfen auf den heißen Stein, aber hoffentlich einer unter vielen.
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[1] Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz. (1966) In: ders.: Erziehung zur Mündigkeit, Vorträge und Gespräche mit Hellmuth Becker 1959 – 1969. Herausgegeben von Gerd Kadelbach. Frankfurt am Main 1970, S. 92–109.
[2] Ebd.
[3] Schapiro-Rosenzweig, Jetta: Sag niemals, das ist dein letzter Weg. Flucht aus Ponar — eine Mutter und ihre kleine Tochter kämpfen ums Überleben. Aus dem Jiddischen von Tamar Dreifuss, Alf/Mosel (Rhein-Mosel-Verlag) 2001.
[4] Vgl. Dreifuss, Tamar: Die wundersame Rettung der kleinen Tamar 1944. Ein jüdisches Mädchen überlebt den Holocaust in Osteuropa. 2009.
[5] Vgl. Dreifuss, Tamar/Lissner, Cordula, Stellmacher, Adrian: Die wundersame Rettung der kleinen Tamar 1944. Ein jüdisches Mädchen überlebt den Holocaust in Osteuropa. Unterrichtsmaterialien für die 3.-6. Klasse zum autobiographischen Kinderbuch von Tamar Dreifuss. (Broschüre ) 2011.
[6] Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz. (1966) In: ders.: Erziehung zur Mündigkeit, Vorträge und Gespräche mit Hellmuth Becker 1959 – 1969. Herausgegeben von Gerd Kadelbach. Frankfurt am Main 1970, S. 92–109.