Nicht aus zweiter Hand – ZWEITZEUGEN e.V. an der Heinrich – Böll – Gesamtschule  

„Denn es reicht nicht nur, etwas darüber zu wissen, sondern man muss auch etwas dagegen tun.“ 

(Zitat einer Zeitzeugin im Gespräch mit Zweitzeugen e.V.) 

Ein Bericht von Anny Papaphilippu 

Zeitzeuginnen und Zeitzeugen – sie werden immer seltener und mit ihrem Schwinden schwindet jeweils auch eine kostbare individuelle Geschichte, ein bewegendes Einzelschicksal und ein Stück ganz persönlicher Erinnerung. Wir an der Heinrich -Böll – Gesamtschule haben das Glück, mit Irene Seiwert (96) regelmäßig eine der wenigen noch existierenden Zeitzeuginnen zu Gast haben zu dürfen, doch dies eine Perspektive auf Zeit. 

Umso wichtiger und notwendiger ist es, den wertvollen Schatz an individuellen Erinnerungen, den Zeitzeugen unseren Schülerinnen und Schülern mitgeben möchten, auch dauerhaft und für künftige Generationen zu bewahren – quasi über die Zeiten hinweg zu retten und vor dem Vergessen zu schützen. 

Genau dies ist auch das erklärte Ziel von ZWEITZEUGEN e.V., einem Verein aus Dortmund, der wider das Vergessen arbeitet, das die Zeit unaufhaltsam mit sich bringen wird und gegen das auch wir mit den Veranstaltungen von Irene Seiwert kämpfen. Daher lag es nahe, ZWEITZEUGEN e.V. mit einem Workshop an unsere Schule zu holen –  dieses Mal in meinen Pädagogik Leistungskurs der Q1. 

Dieser hatte unlängst an unserem jährlichen Anti Rassismus Tag bereits ein spannendes Zeitzeugeninterview mit Irene Seiwert geführt (ein Bericht dazu findet sich auf unserer Homepage) und konnte so dem Zweitzeugen Workshop fachlich informiert und ethisch sensibilisiert entgegensehen. 

 Wie arbeiten die Zweitzeugen? – „Wir helfen Schülerinnen und Schülern, die Biographien der  Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus verschiedenen Ländern einerseits zu erarbeiten, dann andererseits weiter zu erzählen, und damit als Zweitzeugen zu fungieren, wo die wahren Zeitzeugen immer seltener werden, „ so sinngemäß Romina Leiding, Leiterin des Workshops an unserer Schule und Zuständige von Zweitzeugen e.V. für Köln. 

Die Schülerinnen und Schüler lernen also, selbst Verantwortung gegen das Vergessen zu übernehmen und damit eigenständig dabei zu helfen, dass das Theodor W. Adornos Erziehung nach Auschwitz immanente Vermächtnis der Aufklärung und Sensibilisierung künftiger Generationen aktiv umgesetzt wird –  ein immens wichtiger ethischer Auftrag. 

Und so beschäftigen sich unsere Schülerinnen und Schüler mit der Lebensgeschichte der 1923 in Kaiserslautern geborenen Erna de Vries, Tochter einer Jüdin und eines evangelischen Christen. 

Nach dem frühen Tod des Vaters wusste Erna bereits, dass sie Ärztin werden wollte und war entsprechend ehrgeizig in der Schule; doch während des um sich greifenden Nationalsozialismus wurden ihre Zukunftspläne zusehends eingeschränkt: sie musste die Schule verlassen, arbeitete stattdessen in einer Wäscherei. Als 15- Jährige musste Erna miterleben, wie die elterliche Wohnung durch die Nazis verwüstet wurde und erlitt bis zu ihrer Flucht nach Köln Anfeindungen und Ausgrenzung in massiver Form. In Köln machte sie zunächst eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin, dann zur Pflegerin im jüdischen Krankenhaus in Ehrenfeld. Wie durch ein Wunder entging Erna zunächst der Deportation, da sie sich am Tag der Übernahme des jüdischen Krankenhauses durch die Nazis gerade auf Heimaturlaub in Kaiserslautern befand. Aber auch dort waren Erna und ihre Mutter nicht sicher. Es erfolgte letztlich doch die Deportation nach Auschwitz, das Erna lebend verlassen konnte, während sie ihre Mutter dort zurücklassen musste; eindringlich wird die Abschiedsszene zwischen Mutter und Tochter anhand eines aufgezeichneten Gesprächsausschnitts mit Erna de Vries dokumentiert. 

Nach weiteren unmenschlichen Strapazen, die hier den Rahmen sprengen würden, kehrte Erna schließlich nach Köln zurück und lernte dort ihren künftigen Mann Josef kennen, der selbst Frau und Sohn in Auschwitz verloren hatte, und mit dem sie in Norddeutschland ein neues Leben beginnen konnte. 

Dies nur äußerst grob die ergreifende Lebensgeschichte der Erna de Vries, die sie selbst noch bis 2020 unermüdlich an Schulen erzählte, um Heranwachsende aufzuklären und zu sensibilisieren, immer unterstützt durch ihre Tochter Ruth. Erna de Vries verstarb im letzten Jahr im Alter von 97 Jahren, doch ihre Geschichte bleibt – weitererzählt durch die Zweitzeugen und damit vor dem Vergessen bewahrt. 

Und unsere Schülerinnen und Schüler? Diese verfassen – und auch dies ist Teil des Projekts- nun persönliche Briefe an die Tochter der Zeitzeugin, erklären darin, was Ernas Geschichte sie gelehrt hat, was sie für sie bedeutet. 

Die Zweitzeugen lassen die Briefe der Jugendlichen den Zeitzeugen selbst oder eben deren Nachfahren zukommen; 2015 allein wurden über 300 Briefe an noch lebende Zeitzeugen in Israel übergeben. 

Den Zeitzeugen bedeuten die Briefe der Heranwachsenden unsagbar viel, weil sie Empathie und Mitgefühl vermitteln und eben ein Zeichen wider das Vergessen sind – über Generationen und Ländergrenzen hinweg. 

 So haben wir in kurzer Zeit zwei bewegende Biographien kennengelernt –  die Irene Seiwerts und die der Erna de Vries, beide ganz unterschiedlich, beide aufwühlend, beeindruckend und echt. Wir haben anhand dieser Geschichten, die auch ein Teil Geschichte sind, verstanden, was es bedeutet, in einer oder gerade der wichtigsten Phase des Lebens –  der Jugend – Angst, Not und Entbehrung zu erleben und dieses Trauma später durch Herz und Verstand so zu verarbeiten, dass es nachfolgende Generationen wach, empathisch und mitfühlend macht und Räume eigenen Engagements gegen faschistoide Tendenzen eröffnet. 

Außerdem haben wir gelernt, dass es unerlässlich und sinnstiftend ist, sich persönlich für Frieden und Mitmenschlichkeit einzusetzen und wachzurütteln. 

Wenn wir nur ein Weniges von der Betroffenheit und dem Verantwortungsgefühl, welche uns die Auseinandersetzung mit Irenes und Ernas Geschichte vermittelt haben, selbst als Zweitzeuginnen und Zweitzeugen bewahren und weitergeben können, haben wir langfristig unermesslich viel gewonnen. 

Wir danken Romina Leiding für einen sehr gehalt – und  wertvollen, dabei menschlich warmen Workshop und freuen uns auf weitere gemeinsame Projekte…   

Außerdem danken wir dem Förderverein der Heinrich – Böll –  Gesamtschule, der uns erneut bei der Umsetzung auch dieses Projekts unterstützt hat – habt vielen Dank, dass ihr hinter unseren pädagogischen Anliegen steht! 

Wir bedanken uns außerdem herzlich bei der Rheinenergie Stiftung und der GAG Immobilien AG für die Ermöglichung dieses wunderbaren Workshops!